SIMON LEHNER | I’m a liar, but a good one

KOENIG2 by_robbygreif | May 28 – July 31, 2021

“I’m a liar, but a good one“, stellt Simon Lehner in den Raum. Der Titel seiner Einzelausstellung bei KOENIG2 birgt Fragen nach Erinnerung, Wahrheit, Trauma, Autorschaft und künstlerischer Produktion, die in einem reduzierten Setting von vier Arbeiten Ausdruck finden. Es ist keine klassische Fotografie zu sehen, viel eher erscheinen die Wandobjekte und Animationen mit Malerei verwandt. Das im Autobiografischen verankerte Ausgangsmaterial seiner Arbeiten – meistens eingebundene Fotografien aus der Kindheit und Jugend des Künstlers – bildet das Fundament einer invertierten Bildgenese. Simon Lehner formt so einen Arbeitsprozess, der aus dem Dialog zwischen Erinnerungen und dem Bewusstsein entsteht.


Aus der Umwandlung persönlicher Fotoarchive in neu interpretierte digitale Räume generiert er einzelne Leitmotive, die sich als Alter Ego, Tankstelle, Höhle, Tisch oder Fernseher manifestieren. Diese immer etwas variierenden, aus dem Archiv geschürften Bildkonstellationen verbinden sich in unterschiedlichen Kombination zu zwei- oder dreidimensionale Oberflächen, um in letzter Instanz von einem Roboter bemalt zu werden. In jedem Schritt des Produktionsprozesses entstehen kleine Lücken. Einerseits befördern diese eine Qualität in den Arbeiten, die einem malerischen Duktus sehr nahe kommt. Andererseits funktionieren durch sie die algorithmischen Verarbeitungsvorgänge als Prothesen der Gedankenwelt des Künstlers; ihnen kann somit eine starke Ähnlichkeit zu menschlichen Erinnerungsmechanismen zugeschrieben werden. Hier entsteht das, was das titelgebende Lügen suggeriert: Der Software als neurologischem Pendant des Erinnerns wird ein Malen gegenübergestellt, das kein ‚echtes‘ Malen ist.


Die aufwendig produzierten Arbeiten wirken dabei nicht kalt, glatt oder maschinell. Ihnen entströmt ein menschlich-warmes Gefühl, das uns in ihren Bann zieht, und dem erdigen Farbspektrum des zugrunde liegenden Archivmaterials, u.a. von Holzmöbeln und der Farbe des Inkarnats, zu verdanken ist. Die zeitliche Dimension innerhalb der Werkkomplexe, von der elterlichen Motivaufnahme eines Ereignisses im Leben der Familie hin zur künstlerischen Verarbeitung, wird dabei nicht negiert. Alle Zeitpunkte liegen gleichberechtigt über- und nebeneinander, die Ebenen verschmelzen und entsprechend unserer Erinnerung werden sie bei gegenwärtiger Betrachtung zeitlos.


Der Faktor Zeit bekommt auch bei der Ideenfindung Gewicht, da ihr Simon Lehner in seiner Praxis große Bedeutung zumisst. Er verschriftlich seine Gedanken und Emotionen zunächst, um die analog vorgeformten Ideen danach digitalen Übersetzungsmechanismen auszusetzen. Vom Gedanken zum Wort zum Bild oder Objekt ähnelt seine Arbeitsweise dem Kinderspiel “Stille Post”, das als Erziehungs- wie Kommunikationsstrategie ein Sinnbild der Verfälschung von Information durch ihre mehrfache Weitergabe wurde. Der Prozess ist genauso mit dem der Erinnerung zu vergleichen, deren Essenz erhalten bleibt selbst wenn Details verloren gehen. Die Störgeräusche, die durch den Verlust einzelner Informationseinheiten entstehen, werden in den Arbeiten von Simon Lehner aufgenommen und als solche gezeigt: ‚Remnants‘ (dt. Überbleibsel) sind dafür verantwortlich, kleine Restdatenmengen, die das Programm bei der Übertragung des fotografischen Archivmaterials in die Dreidimensionalität nicht verwerten konnte. Hinter den Verzerrungen, die sich mitunter dabei ergeben, eröffnen sich Welten von Überlagerungen, Versatzstücken und assoziativen Momenten, die psychologische Aspekte von Erinnerung in den Vordergrund stellen.


Besonders eindrücklich zeigen sich diese in der Figur eines Jungen, der als Personifikation eines Erinnerungs-‚Ich‘ des Künstlers und als eine Symbolvariante traumatischer Erinnerungen immer wieder auftaucht. In den beiden Animationen „Archive material selfportrait“ (2005-2020) erscheint er nur in Andeutungen mit Gebiss, Augenbrauen und Wimpern vor einem Greenscreen bzw. im klaren Selbstporträt, neugierig aus der Bildfläche herausblickend. In „Sons and Critics“ (2005-2021) sehen wir ihn nackt von hinten quer durchs Bild laufen. Überproportional groß im Vergleich zu einer Gruppe von Figuren links unten schwebt er über eine Traumlandschaft hinweg, die von Glitches, einer mit Rankpflanzen bewachsenen Tankstelle, Skulptur- und Maschinenfragmenten, einem Vorhang und einem Höhlenfragment bevölkert wird. Diese Figur kann, wie viele andere Objekte, die Simon Lehners Bildwelten angehören, als eine Art „Echokammer“ gelesen werden, ein wiederkehrendes Motiv einer traumatischen Erfahrung, dass selbst dann präsent ist, wenn es nicht unmittelbar wahrgenommen wird.


„Demon Dayz and Feel good Inc“ (2005-2021) generiert in dieser Ausstellung vielleicht die klarste Referenz zur Jugendzimmeratmosphäre des Künstlers und seiner Motivauswahl. Der damals Neunjährige saß, wie viele von uns, in seinem Zimmer, um durch das Fernsehprogramm, Musik und die eigene Fantasie motiviert, in Parallelwelten abzutauchen. Die Arbeit zitiert ein Musikstück, eine Single aus dem Jahr 2005 der Gorillaz. Weitere popkulturelle Elemente, wie der Verweis zur Fernsehserie „Two and a Half Men“, die über einen Röhrenbildschirm flackert, sowie der Stapel CDs daneben, werden mit surrealen Traumgesten verschmolzen, die sich mitunter als Schwarm von Bienen manifestiert. Die gesamte Arbeit strahlt ein Vibrieren aus, denn das Rauschen und Flackern des Fernsehers breitet sich visuell und sinnlich über die gesamte Bildfläche. Spätestens hier sind wir ergriffen und verstehen: Simon Lehner erhebt seine Arbeiten zu Projektionsflächen des Unterbewusstseins, in denen Identität, Erinnerung, Trauma und Alltag wertfrei koexistieren dürfen.