RealitätsCHECK | Abstrakte Realität

Kunstraum Potsdam, c/o Waschhaus, featured by Art’Us Collector’s Collective | August 31 – October 6, 2019

Andrea Kopranovic: Abstrakte Realität, in: RealitätsCheck, Publikation anlässlich der Ausstellung im Kunstraum Potsdam, hg. v. Kunstraum Potsdam, S. 72-73 (Abb. 74-89).

Is abstraction more real in that it never demands of the viewer a full suspension of disbelief? And then what does it demand of the viewer?”[1] fragt Bob Nickas in seinem Standardwerk über gemalte Abstraktion. Er bezieht sich mit „Aussetzung der Ungläubigkeit” („[willing] suspension of disbelief“) auf die 1817 begründete, gleichlautende Phrase des britischen Dichters und Philosophen Samuel Taylor Coleridge. Dieser definierte die Bereitschaft der Rezipienten, fiktive Narrative in ihrer Unmöglichkeit vorübergehend zu akzeptieren.[2] Abstrakter Kunst, so Nickas, fehle es per definitionem an einem klassischen Narrativ und müsse anders gefasst werden und Anderes fordern. Aber ist sie damit realer oder weniger real als andere Ausdrucksformen?

Die hier versammelten künstlerischen Positionen bedienen sich einem Spektrum an Mitteln und Strategien der Abstraktion – eine Bandbreite, die im Folgenden unter drei zusammenfassenden Aspekten exemplarisch veranschaulicht werden soll.[3]

Konstruktiv bis Geometrisch

Ein Teil zeitgenössischer abstrakter Kunst entspringt den Traditionen der Minimal Art der 1960er Jahre und der geometrischen Abstraktion im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts. Natalia Załuska (*1984 in Krakau, lebt und arbeitet in Warschau) nimmt die davon beeinflusste polnische Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre zur geistigen Grundlage ihres konstruktiven Oeuvres. Von der zumeist hochrechteckigen Form ausgehend schichtet sie Karton über Karton, bemalt die Oberflächen sorgfältig auf weißer oder schwarzer Basis – oft um sinnliche Farbeinschlüsse oder –Akzente erweitert – um sie schließlich zu zerschneiden oder zu zerreißen. Die De- und Re-Konstruktion ihrer malerischen Collagen mit den Mitteln von architektonischen Perspektiven erzeugt eine grafisch-minimalistische, jedoch kraftvolle Tiefe.

Die Arbeiten von Bernard Piffaretti (*1955 in Saint-Étienne, lebt und arbeitet in Paris) entspringen hingegen einem unermüdlichen, systemischen Nachbilden einer eben geschaffenen Komposition in eine ähnliche, aber nicht exakte Kopie. Daraus entwickelte der Künstler ein eigenes, verbindliches Regelwerk.[4] Seine farbintensive Malerei kann im Diskurs John Bergers – und dessen auf Walter Benjamin rekurrierende Gedanken[5] – zu Bild und Abbild, dem Original und dem Reproduzieren gesehen werden.[6] Berger spricht hier, durch Benjamin, von der fotografischen Reproduktion eines originären Kunstwerkes und dem mit der Kopie einhergehenden Informationsverlust. Anstatt jedoch an Information zu verlieren, gewinnt Piffarettis Malerei durch Verdoppelung an Bedeutung: Es entstehen zwei Originale, als geschwisterliche Diptychen vereint auf einer Leinwand.

Minimalistische Eingriffe prägen andererseits die gemalten Reliefs von Hans Schulte (*1967 in Essen, lebt und arbeitet in Düsseldorf). Auf seinen mit einer eigens entwickelten Farbmasse vollständig beschichteten, monochromen Leinwänden erzeugt er durch bewusst gesetzte, jedoch intuitive und fast körperliche Markierungen rhythmische Koordinaten, deren Wert als Chiffre kodiert und verschlüsselt bleibt. Den eingeschriebenen Rillen zugrunde liegt der gestische Duktus der Farbschicht, der die Ordnung der Zeichen umhüllt und den Betrachtern eine Ahnung von Licht und Materie anbietet.

Gestisch bis Expressiv

Dem abstrakten Expressionismus oder dem Informel folgend, bedient sich eine andere Fraktion der Freiheiten außerhalb strikter Geometrie und konstruktivistischer Modulation. Die dennoch analytischen aber spontan wirkenden Leinwände von Secundino Hernàndez (*1975 in Madrid, lebt und arbeitet in Madrid und Berlin) sind ein Beispiel. Für seine methodische Herangehensweise an den Dialog zwischen ihm und dem Bild nimmt er von kleineren Vorzeichnungen und Collagen oft figurativer Motive Gebrauch, welche er präzise auf Leinwand überträgt, um sie schließlich kontinuierlich in eine abstrakte Realität aufzulösen.  Darin lotet Hernàndez die Grenze zwischen Figuration und Abstraktion aus, aber auch unsere Sehgewohnheiten und normierten Wahrnehmungsschemen unterzieht er einer Prüfung. Wenige Striche reichen dabei aus, um den Arbeiten eine Ausstrahlung von Unmittelbarkeit zu verleihen, die zwischen Assoziationen von Cartoon-ähnlichen Gesten und Graffititags oszilliert. [7]

Katharina Grosse (*1961 in Freiburg im Breisgau, lebt und arbeitet in Berlin) ist wohl eine der bekanntesten Vertreterinnen dieser Zuordnung. Die Spitzpistole ist ihr bevorzugtes Werkzeug, Leinwände und Orte von monumentaler Größe ihr bevorzugtes Austragungsfeld. Die vielen sich überlagernden, intensiven Farbschichten, die Verhüllung und Dynamik in ihrer Praxis birgt eine Gleichzeitigkeit in sich, die beinahe anarchistisch einen Anti-Narrativ verfolgt – ein Konzept von Zeit und Raum, welches erlaubt, Prozesse, fertiges Bild und den Diskurs darüber simultan zu erfassen.

Strukturell bis Archäologisch

Abseits der Malerei verhandeln KünstlerInnen abstrakte Strategien in einer Vielzahl von Medien. Der genaue Beobachter Jan Paul Evers (*1982 in Köln, lebt und arbeitet ebd.) ist in der analogen Fotografie beheimatet. Seinen Arbeiten wohnt gerade in ihrer Körnung und ruhigen schwarz-weißen Ästhetik eine besondere Präzision und Kraft inne. Durch Schablonen und chemische wie manuelle Bearbeitungen in der Dunkelkammer generiert er Formen und Strukturen, die abseits von möglichen Zuschreibungen Lichträume eröffnen, um unsere Wahrnehmung in einem strukturellen, minimalistischen Ansatz für Details schulen und dem Betrachter die Grenzen zwischen Realität und fiktiver Konstruktion aufzeigen.

Die mystisch anmutenden Installationen von Cécile Wesolowski (*1982 In Croix, lebt und arbeitet in Potsdam) sind dagegen laut, schillernd und füllend. Serielles Upcycling, phänomenologische Gesten und philosophische Aneignung verbinden sich in ihren multimedialen, handwerklich sorgsam geschaffenen Werken zu Simulationen einer Realität, die unsere politischen, ökologischen und ökonomischen Wahrheiten humorvoll infrage stellt.  

Abstrakte Realität?

Wie könnte Abstraktion aus dieser Fülle an unterschiedlichen Zugängen nun definiert werden? Was sind die Ansprüche, die sie erhebt? Ist es, laut Bob Nickas, eben jene Staunen hervorrufende Ungläubigkeit, die eine Benjaminsche Aura generiert? Vielleicht kann Abstraktion nur in ihrer Unterscheidung vom Anderen gefasst werden. Monochrome Flächen, Farbmarkierungen, Schichten, Linien, Schnitte, geometrische und organische Formen: An der Grenze einer gegenständlichen, repräsentativen oder mikroskopischen Realitätsdarstellung, fängt das Reich der Abstraktion an. Abstrakte Kunst öffnet Räume einer konstruierten Wahrheit, die zuerst unsere gewohnte, sichtbare Realität negieren, sich ihr abwenden muss. Aus dem Prozess dieser Abgrenzung entsteht ein Zugang zu komplexen, bis dahin oft unbekannten Inhalten und neue Möglichkeiten für eine selbstbestimmte Realität.


[1] Bob Nickas, The Persistence of Abstraction, in: Idem, Painting Abstraction. New Elements in Abstract Painting, London 2009, S. 8.

[2] Vgl. Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria, hrsg. v. Nigel Leask, London 1997 (EA 1817).

[3] Keine der Positionen kann dabei anhand von nur einer oder zwei Arbeiten strikt kategorisiert werden. Die ordnenden Schlagwörter dienen lediglich dem Versuch, den Rezipienten ein weites Feld an Anschauungsmöglichkeiten und Hintergründen zu eröffnen.

[4] Das sogenannte Système Piffaretti entstand zwischen 1970 und 1986 und umfasst drei Regeln: eine grobe Aufteilung der Leinwand in zwei gleiche Teile durch eine vertikale Farblinie, das Malen eines Musters in einen der beiden Teile, und schließlich die Reproduktion des Musters aus dem Gedächtnis in den anderen Teil.

[5] Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Idem. Drei Studien zur Kunstsoziologie, 34. Auflage, Frankfurt am Main 2015 (EA 1963).

[6] John Berger, Ways of Seeing, London 1972 (Neuauflage 2008), S. 24f.

[7] Vgl. Christina Korzen, Secundino Hernàndez. New Paintings, hrsg. v. Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt 2018, S. 7f.