Wo die Form ihre Essenz trifft. Über den architektonischen Charakter in den Arbeiten von Gunda Gruber, in: Gunda Gruber. Die Geometrie der Nicht-Ordnungen, Verlag für moderne Kunst, Wien 2023, S. 15-18 u. 19-21.
Während er diese essentiellen Landschaften betrachtete, überlegte Kublai, welche unsichtbare Ordnung die Städte regierte, nach welchen Regeln sie entstanden, Form annahmen, blühten, sich den Zeitläuften anpaßten, welkten und verfielen. Manchmal schien ihm, als wäre er kurz davor, ein kohärentes und harmonisches System zu entdecken, das den zahllosen Unförmigkeiten und Disharmonien unterlag, aber kein Modell konnte es mit dem des Schachspiels aufnehmen. Anstatt sich den Kopf zu zerbrechen, wie man mit der spärlichen Hilfe dieser Figuren Stadtansichten heraufbeschwören kann, die ohnehin dem Vergessen beschieden sind, würde es vielleicht genügen, eine Partie nach den Regeln zu spielen und jeden einzelnen Spielstand als eine der unzähligen Formen zu betrachten, die das Formensystem zusammenstellt und wieder zerstört.“
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, aus dem Italienischen v. Burkhart Kroeber, mit einem Nachwort v. Pier Paolo Pasolini, 5. Aufl., München, Wien: FISCHER Klassik, 2020, S. 128 (EA Le città invisibili, Turin: Giulio Einaudi editore S. p. A., 1972).
Das berühmte Bonmot von Marcel Duchamp, dass Schachfiguren das Blockalphabet seien, das Gedanken formt, kommt bei dieser liebevoll dargestellten Szene des Italo Calvino in den Sinn. Calvino erzählt in der Rahmenhandlung zu den Bildern seiner unsichtbaren Städte von der Beziehung des venezianischen Reisenden Marco Polo zu Kublai Khan, dem Begründer der Yuan-Dynastie und Kaiser von China. Als Polo eines Tages Khan einen wortlosen Reisebericht anhand von vier mitgebrachten Souvenirs darbietet, indem er die Stücke auf einem Boden aus Fayencekacheln hin und herschiebt, fordert Kahn ihn nach Rückkehr von seiner abschließenden Reise zum Schachspielen auf. Versunken in die Phantasmen und Neuanfänge, die aus den strikten Regeln des karierten Bretts hervorgehen können, gewinnt Kublai Khan die Erkenntnis, dass alle Eroberungen letztlich dazu dienen, die Essenz der Dinge freizulegen. Denn „[d]er Katalog der Formen ist endlos: Solange nicht jede Form ihre Stadt gefunden hat, werden fortwährend neue Städte entstehen. Wo die Formen ihre Variationen erschöpfen und sich auflösen, beginnt das Ende der Städte.“
Reduktion gebiert Essenz
Um die Essenz formgebender Strukturen und ihrer mannigfachen Gestaltungsmöglichkeiten geht es auch Gunda Gruber. Diese erschließt sich in ihrer Praxis durch Fragen nach Räumen und Rauminhalten, dem subjektiven Empfinden ihrer Präsenzen, Ordnungen und Disharmonien und den unsichtbaren, unantastbaren, aber doch spürbaren zugrunde liegenden Stimmungen. Gefiltert wird die essenzielle, subjektive Wahrnehmung aller Aspekte architektonischer Lebendigkeit in den Skulpturen, Installationen und Objekten sowie Fotografien, Collagen, Videos und Performances der Künstlerin.
…
For the full text (in German but also translated into English) please contact me directly.
The publication “Gunda Gruber. The Geometry of Non-Orders”, which includes this text as well as contributions by Tina Teufel and Didi Neidhart, was published on the occassion of the eponymous exhibition at Museum der Moderne Salzburg.