ALBA Gallery, Vienna | February 10 – March 26, 2022
Spiegelt man das Wort LIVE, liest man darin EVIL. Spiegelt man das Leben, meint man darin das Böse zu erkennen. Dieses Phänomen lässt sich sinnbildlich auf Lars Eidingers Fotografien übertragen. Was aber ist das Böse? „Es gibt nichts Gutes oder Böses, es sei denn, das Denken macht es dazu,“ eröffnet uns Hamlet.
Evil und Live sind anagrammatische Palindrome, zwei Seiten einer linguistischen Münze. Dies wird uns in Lars Eidingers Arbeit „Cleveland“ spielerisch vor Augen geführt: Würden wir von der Schauseite „LONGLIVEROCK“ vor der berühmten Rock and Roll Hall of Fame in einer mannhohen roten Wortskulptur lesen, sehen wir auf dieser Fotografie nur das Fragment „LIVE“ von hinten – das Böse bahnt sich somit gerissen seinen Weg. Die reziproke Präsenz des Bösen wie des Lebendigen ist elementar und unumgänglich in den Fotografien, Videoarbeiten und Skulpturen des Berliner Künstlers. Nicht alle seiner Arbeiten sind bitterböse, schwer verdaulich oder von einer langsam schwellenden Traurigkeit erfüllt. Manche zeigen unerwartete architektonische Raumlösungen, zeugen von kindlicher Begeisterung, sind zum Kopf schütteln oder teilen eine Vorliebe mit dem oft morbiden Wiener Schmäh.
Den vielfältigen Variationen des im Alltag Beobachteten gemein ist ihr Name. Die skurril anmutende Überschrift „Autistic Disco“ haftete an allem, was Lars Eidinger außerhalb seiner schauspielerischen Praxis unternahm. Zu Beginn prägte die Bezeichnung seine DJ-Tätigkeit, in der Zwischenzeit packte sie uns in einer Flut endloser Iterationen und zierte seine Ausstellungen wie den kürzlich erschienen Fotoband und bislang auch jede einzelne seiner Arbeiten (deren Titel sich nun ausschließlich aus den jeweiligen Aufnahmeort und dem Jahr zusammensetzen). Die Betonung liegt gewollt auf dem vom Schweizer Psychiater Paul Eugen Bleuler geprägten Begriff eines Zustandes von Selbstsein (von auto-, selbst und -ism, Qualität des Seins oder in der Adjektivform -ic, von entsprechender Natur). Diese Form von Sein gleicht keiner Nabelschau, sondern bereit viel mehr als humanistisches Agens von Narzissmen. Mit ihr werden ernsthafte Reflexion außerhalb der Person des Künstlers – zwischen dem Menschen und seiner menschlichen Umwelt – verhandelbar gemacht. Scheinbar widersprüchlich zeigt sich dieses Äußerliche im zweiten Teil des Titels, welcher ein externalisiertes in-der-Welt-sein in sich trägt durch den Rückbezug zu Musik.
Dieses Mal trägt die Ausstellung den Titel “ƎVI⅃”, die Buchstaben gespiegelt, der Unterton der „Autistic Disco“ aber blieb. Denn offenkundig prominent manifestiert sich das Flair von Disco beim Betreten der Ausstellung in Form eines rotierenden Lichtkubus – ausgelassenes Treiben gezähmt hinter Plexiglas. Das Discolicht ist aber nicht das einzige Tier im transparenten Käfig. Unmittelbar daneben bemerken wir eine Fledermaus, außerhalb der Ausstellung begegnet uns mitunter ein leerer Affenkäfig. Und auch der Goldhamster aus Kindheitstagen steckt in einem kurzfristigen Gefängnis, der einengenden Klopapierrolle. Wir fühlen uns unterhalten bei der Betrachtung von Fauna oder Flora – Lars Eidingers Faible für Bäume die sich um Zäune schlingen ist dabei kaum zu verheimlichen. Die entleerten urbanen Explorationen und (Architektur-)Stillleben evozieren beinahe existenzialistische Gedanken, sei es im steril abgepackten „Madeleine-Moment“ im Netz eines Autositzes oder in der immer rotierenden, plötzlich regungslosen Marlboro-Figur.
Bei den menschlichen Sujets überkommt uns jedoch häufig ein kalter Schauer. Mit dem fahlen Beigeschmack einer Grenzüberschreitung, der wir gar nicht gewahr werden wollten, übermannen uns die Begegnungen mit marginalisierten Gruppen, vor allem mit Obdachlosen: Vor einer Ladenfläche namens „Habitat“, an der Seite der Kollegienkirche in Salzburg, am Boden vor einem Juwelier oder schlafend vor einer Glaswand eines Möbelgeschäftes, hinter der unbenutzte Betten ihre zynische Leere offenbaren. Diese Sichtbarmachungen oft übersehener Zustände sind nicht moralisierend oder konfrontativ. Sie hegen viel mehr eine zarte Verletzlichkeit, die uns auffordert aktiv inne zu halten und mit der Schwere zu verweilen. Einem Balanceakt aller Gefühlsregungen gleich sind wir hin und hergerissen zwischen der Entscheidung, in das Leid der Welt einzutauchen, oder unsere Empathie zu verraten und zum nächsten wohlgefälligen Motiv voranzuschreiten.
Entscheiden wir uns für ersteres, befinden wir uns schlagartig in der Zeitlichkeit aktiven Stillstands. Für Lars Eidinger ist diese Stasis mit dem Tod gleichzusetzen. Durch den Tod wird das Leben reizvoll, seine Stagnation nährt sich von der Bewegtheit des Lebendigen. „Das Gute als Gegenteil des Bösen ist in gewisser Weise gleichbedeutend mit ihm, wie es mit allen Gegensätzen der Fall ist“, schreibt Simone Weil.[1] Die Widersprüchlichkeiten, die sich zwischen dem guten Tod und dem bösen Leben eröffnen, sind in Lars Eidingers Fotografien, Videos und Skulpturen allgegenwärtig, pointiert zum Abschluss gebracht in einem gekreuzigten Jesus als Wanduhr. Der Leib Christi fungiert als Minuten-, das Kreuz als Stundenzeiger, im vermeintlichen Ideal dargestellt als Ursache und Wirkung aller Zeit. Doch sein gesamtes Wesen samt Symbol des Christentums gemahnt zwei Mal täglich dem Sturz Luzifers, indem beide kurz vor halb sechs kopfüber in den Abgrund zu fallen drohen. Anstelle des rettenden Gestus der Erlösung von dem Bösen spüren wir hier einem schmerzhaften Verfall nach. Dem Bigotten sagen wir leise A.D., im Jahr des Herren, im Sinne der „Autistic Disco“.
[1] Simone Weil, Gravity and Grace, London-New York 1952 (1947), S. 70