Palais Rasumofsky, Vienna | October 21 – December 21, 2021
“i am perpetually haunted by a future that could be”
Der englische Begriff Truism (dt. Gemeinplatz) bezeichnet einen rhetorischen Ausdruck, dessen Inhalt einen mehrheitlichen, öffentlichen Standpunkt in einer Form präsentiert, die automatisiert und beinahe sinnentleert erscheint. Es wird eine evidente Tatsache festgehalten, die der Wahrheit entspricht, aber nur bedingt anfechtbar ist. Truisms sind Lückenfüller, Propheten, Scharlatane, Gründe die Augen zu rollen und doch haftet ihnen im richtigen Kontext etwas Mystisches und Auratisches an. Marc Henry (geb. 1996 in München) macht sich ihre dunkle Sinnlichkeit zu Nutze und lässt seine Malerei von diesen Pseudo-Maximen begleiten um ihre düster-melancholische Physiognomie zu unterstreichen. Er schöpft seine oft ironischen Formulierungen aus unterschiedlichen Quellen: Manche entstehen in Reminiszenz an seine Anfänge mit textbasierten Graffitis, andere beschwören quasi-verlorene Webarchive, wie z.B. vergessene Tumblr Blogs, oder Überbleibsel digitaler Bildproduktion. Die Truisms finden sich an den unteren Bildrändern seiner großformatigen Leinwände, als wären sie begleitende Untertitel der darüber befindlichen Narrative. Jeder einzelnen Aussage teilt der Künstler eine eigene Typografie zu und erweckt so den Eindruck einer Individualisierung und Anpassung der Aussage auf das jeweilige Bildsujet. Tatsächlich werden wir mit vielfältigen Inhalten konfrontiert, deren Referenzen aus Pop und Meme Kulturen, bekannten Filmen, den sozialen Medien oder dem News Cycle stammen. Das Erkennen des zugrundeliegenden Bezuges garantiert jedoch keine genaue Zuordnung oder eine Lesbarkeit des Inhalts.
Marc Henry arbeitet mit bewusster Ambiguität. Seine Arbeiten drücken mit ihren abgedunkelten Farben ein erstes Unbehagen aus, das nicht kategorisier- oder lokalisierbar sein möchte. Sujet, Inhalt und Farbe verschmelzen mitunter sogar zu einem Gefühl, das als eeriness erfahrbar wird – ein unbestimmter emotionaler Topos, der zum Teil an die entrückten Atmosphären in den Filmen des US-amerikanischen Regisseurs David Lynch denken lässt. Was den Künstler interessiert, sind subjektive Erfahrbarkeiten, die seine simulierten Realitäten in vielfältiger Art und Weise aktivieren. Narrative Übersetzungsarbeit zwischen unterschiedlichen visuellen Medien ist dabei wesentlicher als die präzise Übersetzung des Inhalts der Arbeiten durch die Betrachter. Der wiederholte Manipulationsprozess beginnt mit der Auswahl eines Motivs aus seinem enormen digitalen Archiv, und führt über die Bildbearbeitung in Photoshop zur Leinwand, zurück zu Photoshop, erneut zur Leinwand, kontinuierlich in rhythmischer Reziprozität bis eine Form gefunden ist. Es entsteht ein Pseudonarrativ, das verfälschte Erinnerungen an echte Begebenheiten birgt. Marc Henry hebt einen Prozess hervor, der Manipulationen eines medialen Wiederkäuens zur kritischen Methode stilisiert.
Die bisher größte Einzelausstellung des Künstlers im Wiener Palais Rasumofsky umfasst rund 30 Arbeiten, fast alle aus diesem Jahr. Der Titel „Wrong Answers Only“ bezieht sich auf ein Spiel in den sozialen Medien, in dem je ein Bild von Filmcharakteren, berühmten Personen oder bekannten Objekten gezeigt wird. Verbunden mit der Aufforderung, ausschließlich alternative Zuschreibungen zum Abgebildeten darunter zu kommentieren, kommt es zur bewussten Verfälschung im Sinne eines humoristischen Aktes. Auch Marc Henrys Arbeiten könnte man auf den ersten, oberflächlichen Blick als schwarzhumorige Ausläufer dieses Phänomens auffassen. Hinter der Fassade erstrahlt jedoch der dunkle Glanz vieler Abgründe: Technokratische Strukturen, Fragen nach Macht und Autorität, Maskierungen und techno-organische Twists bezeichnen ernstzunehmende Auseinandersetzungen mit der digitalen Welt. Ob Roboterarme aus der Automobilindustrie Champagner einschenken, selbstfahrende Autos Fahrerflucht begehen, VR-Brillen tragende Figuren einen Blick in die Zukunft erhaschen, ein Gepard auf dem Beifahrersitz eines dunkelblauen Bentley einen Autounfall herbeiführt, das Basler Himmelsspektakel von 1566 neu verhandelt, der verschwundene Wirecard Server gefunden oder Dodgecoin dem Kadaver eines alten Servertowers zur Seite gestellt wird – Dystopien und Utopien werden in den Arbeiten von Marc Henry miteinander verwoben. Sie erzeugen einen kontingenten Möglichkeitsraum, der nichts ausklammert. Wir befinden uns in ihnen in einer Knautschzone unserer Comfort Zone, einem Ort an dem wir uns unbeschadet bisher unbekannten Ängsten stellen können und es keine falschen Antworten gibt.